Geschichte erscheint im Rückblick oftmals stringent und folgerichtig. Tatsächlich aber ist historische Entwicklung niemals vorherbestimmt, sondern offen und beständig im Fluss. Dies gilt insbesondere für die dramatischen 329 Tage zwischen dem Fall der Mauer am 9. November 1989 und dem Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990. Die Tagebücher von Horst Teltschik, als langjähriger Leiter der außenpolitischen Abteilung im Kanzleramt Akteur und Chronist dieser historisch hoch verdichteten Tage, sind ein Glücksfall für die Forschung. Ein weiterer Glückfall ist, dass sie mit Prof. Dr. Michael Gehler, Leiter des Instituts für Geschichte an der Universität Hildesheim, einen der profiliertesten Kenner des europäischen Integrationsprozesses als Herausgeber und Kommentator gefunden haben. In einem fesselnden und erkenntnisreichen Akademieabend hat Prof. Gehler rund 100 Zuhörer mitgenommen in die sich „kataraktisch überstürzenden Ereignisse“ der Jahre 1989 und 1990.
Akademiedirektor Gunter Geiger begrüßte die Gäste und drückte sein Bedauern aus, dass Horst Teltschik krankheitsbedingt nicht nach Fulda habe kommen können. Mit vielen Zitaten und anschaulichen Schilderungen gelang es aber Prof. Gehler Teltschik wie anwesend wirken zu lassen. Teltschik habe früher als im Grunde alle Akteure und Beobachter dieser Zeit die weltgeschichtliche Dimension erkannt. Während beispielsweise Thatcher und Mitterand noch Anfang 1990 die deutsche Einheit nicht auf der Tagesordnung sahen, notierte Teltschik schon Ende 1989 in seinem Tagebuch, es gehe nur noch um das „wie“ und nicht mehr um das „ob“ der Wiedervereinigung. Auch die Fragilität des Warschauer Paktes, die Schwäche der KPdSU und das bevorstehende Ende der internationalen Nachkriegsordnung sah er hellsichtig. Die Tagebücher zeigen Teltschik als Treiber, dem es gelang, den zeitweise zögernden Kanzler Kohl von dem besonderen Momentum dieser Tage zu überzeugen. Dass der ‚Holzkopf vom Tegernsee‘, wie ihn Kohl gelegentlich nannte, ein so brillanter Zeitdiagnostiker war, hing auch damit zusammen, dass er nicht das Rampenlicht suchte, sondern immer wieder einen Schritt zurücktrat und die Geschehnisse aus anderer Perspektive wahrnahm. Bezeichnend eine Episode aus Dresden, als Kohl am 19. Dezember 1989 vor den Trümmern der Frauenkirche seine schwierigste und – so Prof. Gehler – beste und bewegendste Rede seiner Kanzlerschaft hielt: Teltschik stellte sich nicht neben Kohl auf die Tribüne, sondern mischte sich lieber unter die Menschenmenge und fing die (unterschiedlichen) Stimmungen der Zuhörer ein.
Muss also trotz rund 10.000 Publikationen allein zum deutschen Einigungsprozess die Geschichte der Deutschen Einheit neu geschrieben werden? Das zwar nicht, aber das Tagebuch von Teltschik liefert viele neue und überraschende Einblicke in den Maschinenraum der Macht. Der Akademieabend an der Katholischen Akademie hat damit eindrucksvoll gezeigt, dass Geschichte nicht einfach passiert, sondern gemacht wird. Und so wird auch die Zukunft nicht einfach über uns kommen, sondern wird jeden Tag immer wieder neu verhandelt – hoffentlich mit so viel Weitsicht und Entscheidungsstärke wie bei Horst Teltschik.
Katholische Akademie des Bistums Fulda
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© Katholische Akademie des Bistums Fulda
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